Die verlernte Kompetenz der Innenschau

Ein kleiner Essay über den Wert des Innehaltens in einer beschleunigten Welt

28. Oktober 2025:
Stille ist nicht Stillstand und Innehalten ist keine Pause vom Leben, sondern Teil seines Rhythmus. Wie Zwischenräume helfen, Erlebtes zu verarbeiten – und weshalb Organisationen das ebenso brauchen wie Menschen, erfährst du in diesem Blogartikel.

Die Jahreszeit als Spiegel

Der November bringt einen Wandel: Das Licht schwindet, die Tage werden kürzer, Nebel legt sich über Stadt und Land. Was eben noch klar war, verschwimmt. Formen verlieren ihre Kontur, Geräusche werden gedämpfter, Bewegungen langsamer und die Welt wird unscharf.

Diese äussere Veränderung wirkt – ob wir wollen oder nicht – auch nach innen. Denn woran orientiere ich mich, wenn die Sicht schwindet? Worauf verlasse ich mich, wenn der Halt im Aussen verloren geht?

Oft reagieren wir mit Aktionismus. Pläne, Meetings, Aktivitäten – Hauptsache, die Bewegung bleibt erhalten, oder wird sogar noch beschleunigt. Doch Geschwindigkeit ersetzt keine Richtung. Im Nebel hilft kein Vorwärtsdrängen. Das führt höchstens in die Ver(w)irrung.

Und darin liegt eine Einladung: innezuhalten, statt zu drängen; zu lauschen statt zu senden. Was draussen an Farbe und Fülle weicht, öffnet einen neuen – inneren – Raum für Wahrnehmung.

Erst wenn wir innehalten, beginnen sich andere Sinne zu öffnen: das Hören, das Spüren, das Nach-Innen-Sehen.

Der November ist der Beginn des Winters. Nicht mehr Zwischenzeit, sondern Einbruch der Stille. Eine Zeit, in der die Natur zeigt, dass Wachstum nicht linear ist. Nach der Ernte folgt das Ruhen, nach der Fülle die Konzentration. Und unter der Oberfläche geschieht Arbeit – unsichtbar, aber wesentlich.

Unsere Kultur hat den Winter verlernt.

Wir leben in einem endlosen Sommer der Aktivität in dem «mehr» stets als «besser» gilt. Wir wissen kaum noch, wie sich Rückzug anfühlt. Doch ohne Zeiten des Einfaltens verliert jedes System – biologisch wie organisatorisch – seine Regenerationskraft.

In Unternehmen zeigt sich das an ausgelaugten Teams, an Projekten, die stocken oder zwar beendet, aber nicht wirklich abgeschlossen sind.

Im Persönlichen spüren wir es als Reizüberflutung, als innere Unruhe, als Unfähigkeit, einfach zu sein – ohne Zweck, ohne Ergebnis.

Wir verwechseln Stille mit Stillstand. Aber Stille und Innehalten sind Voraussetzung für Erneuerung. 

Die verlernte Kompetenz der Innenschau

Innenschau ist kein Luxus, keine Flucht vor der Aussenwelt und auch kein Selbstzweck. Sie ist eine Grundbewegung des Lebens – wie das Ausatmen nach dem Einatmen, wie das Ruhen nach der Arbeit.

Ich verwende den Begriff «Kompetenz der Innenschau», um jene Fähigkeit zu beschreiben, in der Stille, Rückzug und Wahrnehmung bewusst genutzt werden, um Verarbeitungs-, Wahrnehmungs- und Regenerationsprozesse zu ermöglichen.

Diese Kompetenz ist in unserer beschleunigten Kultur weitgehend verloren gegangen. Wir wissen, wie man analysiert, plant, umsetzt. Aber wir haben verlernt, wie man verdaut, lauscht und ruht.

Drei Qualitäten kennzeichnen die Innenschau – sie wirken auf individueller wie auf organisationaler Ebene.

1. Verdauen – das Erlebte verstoffwechseln
Wie der Körper Nahrung braucht, um Energie zu gewinnen, braucht auch unser inneres System Zeit, um Erfahrungen zu «verdauen». Ohne diese Zwischenräume bleibt Erfahrung roh, unverarbeitet – und kann unbewusst belasten und Energie binden, die für Neues fehlt.

Aktivität allein schafft noch keine Entwicklung. Erst in der Ruhe beginnt der eigentliche Stoffwechsel: Erlebtes und Erfahrenes setzt sich, ordnet sich, wird Teil eines grösseren Zusammenhangs.

In Organisationen braucht es diese «Verdauungsphasen» ebenfalls. Nach intensiven Projekten oder Veränderungen ist eine Zeit des Nachklingens notwendig. Das Erlebte soll nachhallen dürfen.

2. Lauschen – wahrnehmen, was sich zeigen will
Innenschau heisst nicht Nachdenken, sondern Hinspüren.

Es braucht Verlangsamung, um wieder feiner zu hören: auf die Stimme des Körpers, auf Stimmungen, auf Resonanzen.

Wir sind es gewohnt, auf Fakten und Argumente zu achten. Doch vieles, was uns Orientierung gibt, spricht in einer anderen Sprache – in Körpersignalen, Emotionen, atmosphärischen Schwingungen. Ein «gutes Arbeitsklima» lässt sich nicht direkt messen, aber man kann es fühlen. Es ist eine energetische Qualität, die spürbar wird, wenn Menschen präsent sind – oder die fehlt, wenn Tempo und Druck das Feld dominieren.

Beim Analysieren und rationalen Denken ist es, als würden wir scharf sehen: Wir erfassen Details, präzise, aber auf engem Raum. Beim Lauschen hingegen lassen wir den Blick weicher werden – die Konturen verschwimmen, der Horizont weitet sich. Wir nehmen nicht mehr so scharf wahr, dafür breiter, reicher, mehrschichtig.

Beides gehört zusammen: das Scharfsehen und das Weichhören. Erst in ihrer Ergänzung entsteht ein vollständiges Bild der Wirklichkeit.

Lauschen ist also eine Kompetenz der Wahrnehmung, nicht des Denkens. Wer lauscht, erkennt Zusammenhänge, die im schnellen Denken verborgen bleiben.

3. Ruhen – Kraft erneuern
Schlaf ist das natürlichste Beispiel dafür, was geschieht, wenn wir uns dem Nicht-Tun überlassen: Der Körper regeneriert, das Gehirn verarbeitet nochmals unbewusst Eindrücke, die Energie kehrt zurück. Fehlt diese Ruhe, entstehen Gereiztheit, Überforderung, Fehlentscheide. Kein Organismus kann auf Dauer ohne Regeneration funktionieren.

Auch Organisationen brauchen solche Schlafphasen – bewusst gestaltete Zeiten, in denen kein oder weniger Output erwartet wird. Das kann heissen: eine Phase ohne neue Projekte, eine Woche ohne Sitzungen, ein Tag ohne Entscheidungen. Nicht alles muss sofort beantwortet werden.

Kollektive Pausen verhindern, dass die Verantwortung für Erholung ins Privatleben delegiert wird.

Ein Team, das gemeinsam zur Ruhe kommt, findet danach meist rascher zu Klarheit und Kreativität zurück – genau wie der Mensch nach einer guten Nacht.

Ruhe ist kein Leerlauf, sondern das Reservoir, aus dem Zukunft entsteht.

Diese drei Qualitäten –Verdauen, Lauschen und Ruhen– machen die Kompetenz der Innenschau aus. Sie schaffen jene innere Beweglichkeit, die Organisationen wie Menschen brauchen, um sich in komplexen Zeiten zu orientieren. Innenschau geschieht nicht, wenn wir sie nur wollen, sondern wenn wir ihr bewusst und konkret Raum geben.

Und genau darum geht es im nächsten Schritt.

Räume schaffen für Innenschau – im Leben und in Organisationen

Innenschau geschieht nicht automatisch. Sie braucht Rahmenbedingungen, die Stille und Langsamkeit erlauben – in einer Welt, die beides kaum mehr kennt.

Räume für Innenschau entstehen nicht durch Rückzug allein, sondern auch durch eine Haltung: die Bereitschaft, einen Moment lang nicht zu wissen, nicht zu entscheiden, nicht zu produzieren.

In einer Kultur, die auf Output programmiert ist, sind solche Zwischenräume selten – und gerade darum kostbar.

Im persönlichen Leben
Innenschau unterbricht den gewohnten Rhythmus. Das kann im Kleinen stattfinden, zum Beispiel

  • einen Spaziergang machen, ohne Podcast und ohne Ziel
  • das Tagebuch aufschlagen und «es» schreiben lassen
  • eine Tasse Tee trinken, ohne gleichzeitig die Mails zu prüfen
  • oder einfach still am Fenster zu sitzen und den Blick schweifen zu lassen.

Diese unscheinbaren Momente wirken unspektakulär – aber sie verankern uns und geben unserem System Zeit, Erlebtes zu verarbeiten, in sich hineinzuhören oder einfach zu ruhen.

In Organisationen
Auch Organisationen brauchen Phasen von Regeneration. Nicht als Rückzug aus der Verantwortung, sondern als Brachzeiten, in denen nichts Neues gesät wird, damit das Gewachsene sich integrieren und der Boden sich erneuern kann.

Räume für Innenschau in Organisationen können sichtbar oder unsichtbar sein:

  • sichtbar, wenn sie als Reflexionszeiten, kollektive Pausen, Nachgespräche oder Retrospektiven gestaltet werden
  • unsichtbar, wenn Führungskräfte in entscheidenden Momenten Nicht-Handeln ermöglichen – wenn sie ein Schweigen aushalten, bevor jemand antwortet, oder bewusst auf sofortige Entscheidungen verzichten.

Gerade das unterscheidet Organisationen, die ständig reagieren, von denen, die wirklich lernen. Denn in diesen stillen Momenten klärt sich, was wesentlich ist – und was nicht.

Räume für Innenschau sind also keine Unterbrechung der Arbeit, sondern Teil ihrer Qualität. Wie der Schlaf zur Nacht gehört, so gehört die Pause zur Leistung. Fehlen sie, wird das System reizbar, überhitzt, unkonzentriert.

Schluss – Die Stille als Kompetenz

Vielleicht ist das die grösste Herausforderung unserer Zeit: Stille nicht als Abwesenheit von Leistung zu verstehen, sondern als Quelle von Klarheit, Verbundenheit und Erneuerung.

Innenschau braucht keine Agenda, kein Ziel, keinen Fortschrittsnachweis. Sie braucht nur Raum – und den Mut, ihn offen zu lassen.

Ich wünsche dir – gerade jetzt im Winter – gutes Einsinken in deine Innenschau. Du möchtest für dich, dein Team oder deine Organisation einen solchen Raum kreieren und dich dabei begleiten lassen? Dann freue ich mich auf deine Kontaktaufnahme.

Herzliche Grüsse
Barbara Seeger 

 

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